In letzter Zeit habe ich mich auf Google+ konsequent Pegida-kritisch geäußert, weil diese Bewegung aus meiner Sicht zwar einen System-Protest ausdrückt, den ich teile, aber leider aus der für mich völlig falschen Ecke heraus agiert – nämlich der nationalistischen, mit deutlicher Braunfärbung.
Eigentlich wundert mich diese Bewegung gar nicht. Ich habe schon früher festgestellt, dass ich, wenn ich etwa auf „gelenkte Systemmedien“ geschimpft habe, nicht selten Beifall von der falschen Seite erhielt – nämlich von der rechten. Und ich habe auch in persönlichen Gesprächen schon öfters die Erfahrung gemacht, dass ich keinesfalls mehr (anders als es noch vor zehn, zwanzig Jahren gewesen wäre) als verfassungsfeindliches Element betrachtet (und verachtet) werde, wenn ich laut sage, dass wir in einer korrupten, lobbyhörigen Scheindemokratie leben, die mit echter Demokratie so viel zu tun hat wie ein Elefant mit Origami. Was mich nur schon früher stutzig gemacht hat, war, dass die gleichen Leute, die mir dabei aus voller Überzeugung zustimmten, im nächsten Atemzug anfingen, über Ausländer herzuziehen. Genau das ist aber offenbar das Pegida-Potential.
Alle Protestbewegungen der letzten Jahre teilen die gleiche Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Lobby-gesteuerte Scheindemokratie, gezielte Unterdrückung innovativer Modelle für nachhaltiges Wirtschaften, konsequente Digitalisierung, erneuerbare Energien und sozialer Grundsicherung, und meistens wird auch die herrschende weiße Rassistenkaste in den USA und multinationale Konzerngespinste wie Monsanto als das eigentliche Weltgeschwür erkannt und verdammt. Aber es geht immer auch darum herauszufinden, welche Art von Idealzustand den Protestlern mehrheitlich vorschwebt. Im Fall von Pegida ist das ein kleinbürgerliches, abgeschottetes Deutschtümeln, das aber, wie die Geschichte lehrt, zu einer grausamen Mordmaschine werden kann, wenn dieser Biedermeier zum Äußersten schreitet, angeführt von einem oder mehreren passenden Charismatikern.
Bei den ursprünglichen Montagsdemonstrationen letzten Sommer (die es ja parallel auch immer noch gibt, über die nur niemand mehr ein Wort verliert) schlug bei mir persönlich im Gegensatz zu vielen anderen kein Warnlämplein aus. Protagonisten dieser Bewegung, wie etwa KenFM, sind für mich vielleicht etwas „krachert“ in ihrer Art von Enthüllungsjournalismus, aber weder rechts noch unseriös. Bei einzelnen Figuren aus der Kopp-Verlag-Truppe mag das schon eher zutreffen, aber selbst die schienen mir trotz mancher Äußerungen, die man als „rechts“ interpretieren kann, andere Ziele zu haben als diesen gefährlichen kleinbürgerlichen abgeschotteten Deutschmief, vor dem ich mich am meisten fürchte. Möglicherweise liegt das daran, dass es genaugenommen zwei sehr verschiedene, wenngleich sich ergänzende Spielarten „rechter“ und aber letztlich rassistischer Gesinnung gibt – eine freidenkerische, herrenmenschlerische, der auch Hitler angehörte, und eine untertänige, reaktionäre, in der dieser typische deutschtümelnde Mief herrscht. Gegen letztere bin ich allergisch, bei ersterer muss ich die Gefahr erst bewusst erkennen.
Das beste Gefühl hatte ich persönlich, was die Protestbewegungen der letzten Jahre betrifft, eigentlich bei der Democracy-Now-Bewegung, die aber leider in Deutschland nie so richtig gezündet hat. Das war mehr so die spanische Variante. Da hatte ich das Gefühl, die Leute, die da auf die Straße gingen, waren einfach moderne Zeitgenossen, die sich in der Tradition von Stéphane Hessel empörten. Aber das Ganze war wohl doch zu unbestimmt, und es hatte letztlich vielleicht auch zu viel mit der Situation in Spanien zu tun.
Bei der Occupy-Bewegung war ich unsicher. Halb war ich ihr zugetan, halb war ich skeptisch. Da ging es vor allem um die Weltfinanzordnung, von der ich ungefähr so viel Ahnung habe wie ein Elefant vom Origami, wenn ich ehrlich bin. Da konnte mir jeder alles erzählen. Immerhin bin ich durch die Bewegung auf einige Zusammenhänge und historische Experimente aufmerksam geworden, die mir sonst wohl verborgen geblieben wären. Wahrscheinlich war es diese thematische Fixierung auf das schwierige Feld der internationalen Finanz, die zu viele unterschiedliche Protestler anzog, um aus der Bewegung mehr zu machen.
Es hat viele weitere Proteste gegeben. Solche, über die berichtet wurde (wie etwa die in Brasilien im Vorfeld der Fußball-WM), und solche, über die praktisch nichts berichtet wurde (z.B. in Bosnien/Herzegowina). Allen gemeinsam ist, dass sie lokal begrenzt sind und sich meistens nur gegen eine Staatsregierung richten, was aber zu kurz greift. Was die Internationalisierung betrifft, so war die Occupy-Bewegung noch am weitesten fortgeschritten.
Es brodelt also, und das stört mich nicht – ganz im Gegenteil. Das Wort „Lügenpresse“ stört mich wegen seiner historischen Bedeutung, aber die Wut, die sich bei denen entlädt, die es auf ihre Transparente schreiben, kann ich nachvollziehen. Letztes Jahr ist mir mehr als einmal in aller Deutlichkeit wie Schuppen von den Augen gefallen, in welchem Ausmaß die Leitmedien aus Funk, Print und Online Einseitigkeiten verbreiten und geflissentlich alles ignorieren, was nicht in die vorgegebene Richtung passt. Deutschland, das Land, in dem ich lebe, ist ein völlig erstarrter, verschanzter, in Amerikahörigkeit ergebener Koloss geworden, der innerlich längst kaputt ist, aber nach außen hin und vor seinen Bürgern nach altgewohnter Manier mit Schlips und Kragen daherstolzt, das schmerzverzerrte Gesicht kaum noch verbergend. Die Bürger merken das natürlich, und mit jedem Monat, der weiter vergeht, schreitet die Systemerkrankung voran. Der Parlamentarismus, der zwischen den 50er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts als ein lebendiger, gesellschaftsverbindendlicher Polit-Korpus empfunden wurde, hat, nachdem er sich an den weltweiten Turbokapitalismus und dessen Diktate verhurt hat, seine Legitimation in den Augen von zunehmend mehr Bürgern verloren. Aber die Bürger selbst sind ebenfalls Teil des kaputten Systems. Verstehen immer noch unter „guter Erziehung“ ihrer Kinder, diese gemeinsam mit dem herrschenden Schulsystem in ein Karrieredenken zu zwängen, in dem der Sinn des Lebens ausschließlich in systemergebener Erwerbsarbeit besteht. Kaufen immer noch Automodelle mit alllenfalls hochpolierter Technik von gestern. Wählen nach wie vor die gleiche Regierung, alle vier Jahre wieder. Oder eine etwas andere, die man aber getrost über den gleichen Kamm scheren kann.
Genau da liegt wohl das deutsche oder auch mitteleuropäische Patriotenproblem. Es sind die Bürger, die noch etwas zu verlieren haben. Nicht viel, aber aus ihrer Sicht „alles“. Das sauer erworbene Eigenheim, die erhoffte Zusatzrente, die geliebten Urlaubsreisen, das leidenschaftliche, nur leider nicht ganz billige Hobby, die in allerlei Wirtschaftsfonds investierten Gelder, die vermietete Wohnung, das Motorboot, das in einem sizilianischen Hafen liegt, wo jetzt überall diese Flüchtlinge einfallen, das zu erwartende Erbe der Eltern. Wer nicht anders zu denken gelernt hat als in Anspruch, Konsum und Besitz – und in Deutschland hat man seit Jahrzehnten nichts anderes mehr gelernt, aller gern zelebrierten und vorgeschobenen Gutmenschlichkeit zum Trotz – landet in dieser verhängnisvollen Angstspirale, an deren Ende der Hass auf alles steht, was „von außen hereinkommt“ und „uns etwas wegnehmen will“.
Das Land ist kaputt – so weit gehe ich mit Pegida konform. Aber wir müssen darüber reden, was uns treiben soll: Verlustangst, die das Herz eng werden lässt, oder ehrliche Wut, die bereit ist, in Kreativität umzuschlagen, auch wenn ein paar erhoffte Renditen, Gewohnheiten und Besitztümer dabei drauf gehen, wegen notwendigen Schuldenschnitten, Umverteilungen und Neuordnungen. Die Menschheit wächst zusammen, nicht auseinander. Es wird immer mehr Migranten in Deutschland geben. Wir werden uns vermischen, und graue Augen werden langfristig ebenso aussterben wie gutbürgerliche Küche oder Weihnachtsmärkte mit Kitsch aus dem Erzgebirge. Dafür bekommen wir mehr von den Hautpigmenten, die wir für die Klimaerwärmung brauchen, und vielleicht noch einen Schuss gesunder Unbeschwertheit obendrauf. Jedenfalls brauchen wir einen Protest, der den Schwung des Globalisierungsdenkens nutzt, aber für seine eigenen – nichtkapitalistischen – Zwecke. Einen Protest, der die technischen Visionen der Technokraten übernimmt, aber nicht deren Vorstellungen von sozialer Weltordnung, und schon gar nicht deren überhebliche Ignoranz gegenüber jeglicher Art von Spiritualität. Einen Protest, der von Lust auf zeitgemäße Veränderungen getrieben ist. Der die Arme öffnet für Vielfalt und friedliche Koexistenz ganz verschiedener Kulturpraktiken, Visionen und Vorstellungen. Das mag nach naiver Multikulti-Romantik klingen. Aber ich kenne nichts Besseres, letztendlich.
Verrät mir jemand, wo eine entsprechende Demo stattfindet?